"Florence"


Ein Romanprojekt.


Zuhause ist nicht da wo mein Haus steht. Es ist weder dort, wo meine selbstgepflanzten Blumen wachsen, noch da wo der Käfig meines Haustieres steht. Es ist ein Ort, den kein Mensch definieren kann. Es ist der Ort wo mein Herz liegt. Er verändert sich. Mal seltener, manchmal Tag für Tag. Ein Herz ist kein Seniorenclub. Es ist wie eine junge Katze. Es will alles entdecken, alles ausprobieren, sich auf etwas festlegen, sich umentscheiden, sich erneut felsenfest überzeugt festlegen und sich schließlich doch wieder umentscheiden. Es ist ein verdammtes Mysterium. Heute liegt mein Herz in den Armen eines Jungens, morgen in einer bestimmten Stadt und übermorgen in einem einzigen Zimmer. Mal fühle ich mich in unserer Wohnung zuhause, mal würde ich am liebsten einen Zettel hinterlassen und irgendwoanders hingehen. Irgendwo wo etwas neu ist. Irgendwo wo man nicht diese Taubheit des Alltags zu spüren bekommt. Aber auch dann, wenn ich einen Zettel hinterlasse und das Haus verlasse, lande ich nur wieder auf meiner Bank oben am Berg. Mein liebster Ort. Ein Ort an dem ich mein Herz zur Besinnung kommen lassen kann. Ich bin jung. Das bedeutet es ist doppelt schwer. Mein Herz ist sowieso wie ein junges, abenteuersuchendes Etwas, aber dadurch, dass ich dazu selbst noch sehr jung bin, kommt es manchmal zu Komplikationen. Eine explosive Mischung sozusagen. Es ist so als würde die junge Katze, die ich euch oben schon versucht habe vorzustellen, eine Mitbewohnerin bekommen. Eine ebenfalls sehr junge Katze. Normalerweise verstehen diese beiden Kätzchen sich recht gut, doch kommt es zu einem Gefühl (dieses befindet sich ja im ersten Kätzchen) welches die zweite Katze nicht versteht oder nicht fühlen möchte, so kommt es zu einem Streit unter Katzen wie er im Bilderbuche steht. Die Krallen werden ausgefahren, man hört Knurren und Schreie und letztendlich gibt eine nach, verletzt und gedemütigt.
Ein Krieg zwischen dem Ich und dem Über-Ich.
Dies ist meiner Meinung nach eine Möglichkeit den Zustand zu beschreiben, in dem ich mich zurzeit befinde. Pubertät. Die Zeit, in der alles komisch ist und Gefühle die Welt zu regieren scheinen.
In dieser Zeit macht man sich doch eh nur vor man habe sein zuhause gefunden, eigentlich aber ist man noch mitten in der Suche. "Dein Leben hat gerade erst begonnen, Schätzchen.", pflegte meine Großmutter zu sagen. Oder auch "Das Leben ist wie eine wunderschöne Blume. Du musst sie gießen und pflegen, ansonsten geht sie ein." Nun ist sie tot und diese Worte, die mir zuvor noch so lebendig vorkamen, kommen mir nun vor wie kleine tote Tiere, die sich am Boden meines Herzens niedergelegt haben. Jetzt wo sie nicht mehr hier ist und ich nicht mehr in ihre vollkommen vertrauenswürdigen Augen blicken kann wärend sie das sagt, kommt mir das alles nicht mehr wahr vor. Mein Leben hat nicht gerade erst begonnen. Ganz im Gegenteil. Ich fühle mich eher so als sei ich bereits in einer tiefen und undüberwindbaren Midlifecrisis angelangt.
So sitze ich hier oben auf meiner Lieblingsbank, mit dem perfekten Blick auf die Stadt, betrachte den anbrechenden Sonnenuntergang, genieße die Pralinen, die ich kurz zuvor im Zimmer meines Bruders entdeckt hatte und denke über genau das nach.
Ich glaube ich hatte mein zuhause gefunden, doch nun ist es für immer fort.


Ein Berg

"Florence, das ist ein sehr schöner Name".
"Vielen Dank, Madam, es war der Wunsch meiner jetzt verstorbenen Großmutter mich so zu nennen."
"Herzallerliebst, meine Liebe."
"Danke Madam."
Ich bin ganz und garnicht in der Stimmung mich weiterhin mit der Frau aus dem Tante Emma Laden zu unterhalten. Deshalb warte ich erst garnicht bis sie mir die Plastiktüte mit der gerade erworbenen Wurst und dem Käse anreicht, sondern ich nehme sie mir direkt vom Thresen, drücke ihr schnell das nötige Kleingeld in die Hand und verschwinde dann durch die Ladentür nach draußen. Heute ist mal wieder einer dieser Tage, an denen bei mir garnichts mehr geht. Ich bin bis gerade eben in der Schule gewesen, komme nach Hause und da begrüßt mich meine heißgeliebte Mutter schon mit einem "Du darfst uns Aufstrich fürs Abendbrot besorgend, Liebling." Ich hasse ihren Sarkasmus. Am liebsten würde ich nun zu Herr Dresdners Haus gehen und dessen Hund mit einem Leckerbissen, bestehend aus Wurst und etwas Käse füttern. Ich liebe diesen Hund einfach zu sehr, er hat große braune Augen, die so treu gucken, wie ein Mensch niemals gucken könnte. Und ich hasse meine Mutter einfach zu sehr, sie hat kleine graue Schlitzaugen, die so neckisch gucken, wie ein Tier niemals gucken könnte. Natürlich hasse ich meine Mutter nicht immer, aber es kommt in letzter Zeit doch hier und da mal vor, dass ich es mir ordentlich mit ihr verscherze. Mein Vater dagegen ist vollkommen in Ordnung. Bis auf die Tatsache, dass er vergessen haben könnte wie mein Gesicht aussieht, ist er ein aufrichtiger und guter Mensch. Er ist viel auf Reisen, hat einen harten Job als Reisebegleiter angenommen und düst seitdem durchs ganze Land und darüber hinaus, mit seinem roten Reisebus, den er liebevoll "Oscar" getauft hat.
Zuhause angekommen lege ich die Plastiktüte auf den Küchentisch und rufe so freundlich wie möglich: "Ich bin wieder da. Hab alles mitgebracht."
Ich versuche stets ganz normal und freundlich zu wirken. Ja, ich habe oft Stimmungsschwankungen, wenn ich es recht überlege sogar ganz gewaltige, aber ich möchte keine von diesen Teenagertöchtern sein, über die ihre Mütter sich beim Kaffeetrinken unterhalten. Man kennt das ja. "Hachja MEINE Tochter ist jetzt auch so richtig in der Pubertät. Machmal wird sie richtig zickig und dann schließt sie sich in ihrem Zimmer ein, sitzt den ganzen tag am PC, scheißt auf meine Meinung und schwärmt die ganze Zeit von irgendwelchen Jungen. " Nein, so etwas wird nie irgendwer über mich sagen können. Ich bin kein typischer Teenager. Vielleicht versuche ich mir das auch nur einzureden, aber durch genau diesen Gedanken werde ich doch bereits ein untypischer Teenager oder etwa nicht? Schon beim Wort Pubertät...wie ich dieses Wort hasse! Ich bin 16, okay? So ein Wort lasse ich mir nicht als Stempel aufdrücken. So ist es doch! Wird man so wie fast alle in dieser Zeit werden, so bekommt man direkt einen dicken fetten Stempel aufgedrückt und wird so zum Teil der Masse. Ich will aber nicht zum Teil der Masse gehören und deswegen versuche ich stets diesen Ruf von meiner Persönlichkeit fernzuhalten.
Ich schreibe meiner Mutter wie so oft eine kleine Haftnotiz und klebe sie an den Kühlschrank. "Bin am Berg." Ich packe mir meinen Rucksack, in dem sich meine Schulsachen befinden und mache mich auf den Weg. Schon von Weitem sieht man ihn: meinen Berg. Natürlich ist es nicht wirklich MEIN Berg, aber da ich der einzige Mensch bin, der dieses Hügellchen jemals wirklich in sein Herz geschlossen hat, denke ich, ist es mein gutes Recht ihn so zu bezeichnen. Umgeben von einer Reihe hoher dunkler Tannen steht er dort. Man kann die Spitze nicht erkennen, es könnte genauso gut ein einfacher Wald sein, der an einem Hang liegt, aber nein, ich weiß, dass wenn man durch diesen Wald hindurch geht, auf der anderen Seite eine Fläche liegt, auf der kein Baum steht, nur das Gras und die frische Luft. Von hier aus kann man alles sehen. Die komplette Stadt liegt wie eine Landkarte vor mir ausgebreitet. Ich habe gelernt in ihr zu lesen, ich weiß wer wo wohnt, ich weiß wann was geschieht. Es ist wie eine kleine Welt aus Lego, gebaut vor meinen Füßen, mit Menschen, die zu klein sind um sie als ein Individuum wahrnehmen zu können. Es ist perfekt. Diesen Ort habe ich gebraucht um meine genervte Seele zu befreien und ganz ich sein zu können. Ich setze mich auf die Bank, die bedrohlich schräg am Hang nach unten angebracht wurde und lese wie jedes Mal, die eingravierte Aufschrift. "Gespendet von der ABG Versicherung-Ihre Garantie für ein Sicheres Leben." Der Werbespruch steht in klein darunter. Ich fand es schon immer witzig, dass eine Bank, die von einer Lebensversicherungsfirma gesponsert wurde, so schief am Hang angebracht ist. Jemand, der nicht mit meiner ultimativ optimalen Sitzposition vertraut war, könnte da ganz leicht in den Abgrund stürzen. Dann wiederrum müsste er allerdings auf die Lebensversicherung zurückgreifen. Okay, eigentlich ganz klug von denen. Garnicht schlecht, nicht schlecht. Das murmle ich vor mich hin während ich die gewohnte Position einnehme und beginne meine Schulsachen aus dem Rucksack zu zerren. Hier oben ist es viel schöner die Hausaufgaben zu erledigen. Man hat den Kopf viel freier als im Mief des Alltags dort unten. Nachdem ich meine Französisch Hausaufgaben erfolgreich beendet habe, lehne ich mich zurück und genieße ein wenig die Aussicht. Da sind Häuser. Große und kleine, blaue,weiße und braune. Seit neuestem ist doch tatsächlich irgendeine Firma auf die Idee gekommen eines der großen Familienhäusern der Stadt in einem kräftigen Pink zu streichen. Wie sich die Männer, die in dem Haus wohnen wohl fühlen müssen? Es sieht komisch aus, eine Stadt, so grau und gewöhnlich und mittendrin ein Haus, was selbst bis hier oben eine solche Leuchtkraft ausstrahlt, dass ich jedes Mal wieder grinsen muss, wenn ich an den Blick der Leute denken, nachdem man ihnen gesagt hat, man würde ihr Haus quietschpink bemalen. Mein Blick schweift weiter. Die Wolken stehen grau, aber nicht so grau, dass sie Regen abgeben würden, im Himmel. Der Himmel weint selten in unserer Stadt. Woran das liegt kann ich mir nun wirklich nicht erklären. Vielleicht will der liebe Herrgott ja den Anstrich des pinken Hauses schützen um so seine Farbintensität zu erhalten. Wer weiß? Meine Augen fahren den kleinen Fluss entlang, der die Stadt durchfließt und stoßen am Ende ihres Weges auf etwas, das ich hier seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Ein Zelt. Ich glaube es ist ein Zirkuszelt, oder es soll zumindest eines sein. Es ist nicht sehr groß, die Streifen auf dem Dach, die wohl mal ein knalliges gelb und rot waren, sind verblasst, so als hätte der Himmel dort wo der Zirkus herkam schon viel zu häufig weinen müssen. Ich krame mein Fernglas aus dem Rucksack und versuche etwas mehr sehen zu können. Ich sehe Käfige, die in einem Gelände direkt hinter dem Zelt aufgebaut werden. Er ist also gerade erst angekommen. Ein paar Menschen tummeln sich vor dem Zelt, viele sind es nicht. Früher habe ich Zirkusse geliebt. Jedes Mal wenn ein Zirkus in der Stadt war, wollte ich direkt in die nächste Aufführung und sollte meine Familie mal wieder keine Zeit oder Lust dazu haben, schrie ich so lange und so laut, bis man mich dann von meinem Leid befreite und mit mir in die nächste Vorstellung ging. Dafür musste immer meine Großmutter herhalten. Sie war diejenige, die Monat für Monat ihre alten Knochen belastete nur um sich dann mit mir auf die harten Holzbänke zu setzen, auf denen sie Rückenschmerzen bekam. Ich liebte den Zirkus. Ich liebte die Tänzerinnen, die mit glitzernen Pallietten beschmückt ihre Hüften schwangen und den bunt bemalten Clown, dessen Anblick mich schon immer zum Lachen brachte. Ich liebte außerdem die Tiere: Ponys, Ziegen, Tiger, sogar Elefanten bekam ich zu Gesicht. Ich liebte es. Aber noch viel mehr liebte ich meine Oma. Sie war für mich mehr als meine Eltern es jemals hätten sein können. Während meine Eltern beide lieber arbeiten gingen oder ohne mich in den Urlaub fuhren, verbrachte ich Tage und auch Nächte im Haus mein innig geliebten Großmutter. Oma war diejenige die mir Ratschläge gab. Sie war immer so philosophisch. Wie sie redete, das faszinierte mich Tag für Tag und bei jedem ihrer Worte hörte ich ihr gespannt zu als würde sie mir gerade ein Märchen erzählen, obwohl sie nur von Dingen sprach, die alltäglich und vollkommen irrelevant waren. Sie brachte mir bei wie man sein Leben genießt, wie man sich zu verhalten hat in dieser ungerechten Welt und wie man seilspringt ohne dabei mit den Zehen am Strick hängen zu bleiben.
Heute hasse ich den Zirkus. Ich hasse die billigen Gogo-Tänzerinnen in ihren Null-acht-fünfzehn Klamotten. Ich hasse die Ponys, die eh nur zu einem gut sind, undzwar zum Kinderpferdchenreiten auf der Kirmes. Ich hasse den Clown und sein elend grinsendes Gesicht und ich hasse die Artisten, die sich alle unglaublich sexy fühlen in ihren dämlich glitzernden Anzügen, eng und bunt. Schwuchteln!
Manchmal fühle ich mich so allein. Doch der Ort, an dem mein Herz ein warm wohliges zuhause gefunden hat waren die Arme meiner Oma. Ich werde nie wieder eins dieser elenden Zirkuszelte betreten können ohne dabei diese unglaubliche Wut zu verspüren. Wut und Trauer. Warum musste sie gehen? Es macht mich so unglaublich wütend, dass sie mich verlassen hat als es gerade am schwierigsten wurde. Ich wurde einfach so allein gelassen. Zurückgelassen in einer Welt, die plötzlich nicht mehr aus Glitzer und Clowns bestand.                                                                                                                                                                                                      




Ein Geburtstag

"Happy Birthday to you, Happy Birthday to you, Walter, sing auch mit verdammt noch mal, Happy Birthday to yoooou."
Ich gucke in die Gesichter meiner Eltern und meines Bruders. Meine Mutter klimpert aufgeregt mit den Wimpern und mein Bruder guckt sehnsüchtig in Richtung Tür. Meine Augen sind noch halb verklebt, der Schlaf steckt noch in ihnen.
"Guten Morgen. Das ist wirklich lieb.", sage ich verschlafen.
Meine Mutter wirbelt zur Tür und holt einen Haufen bunt verpackter Geschenke dahinter hervor. "Du hast dir ja nichts gewünscht Schätzchen, aber ich hoffe wir können dir mit den Sachen trotzdem eine Freude bereiten!".
Ich lächle, es ist ein ehrliches Lächeln, ich fühle mich gut. Langsam greife ich zum ersten Paket, ich beginne mit dem größten. Ich frage mich warum alle immer mit dem kleinsten Geschenk beginnen. Ich für meinen Teil habe schlechte Erfahrungen mit dieser Strategie gemacht. Früher packte ich immer erst die kleinsten Geschenke aus. Meistens befanden sich in den Briefumschlägen und kleinen Schatullen teure Konzertkarten oder Schmuck. Im größten Geschenk befand sich schon mehrere Male ein recht großes Gesellschaftsspiel, von dem ich genau wusste, dass mein Bruder es sich total gerne selbst gekauft hätte. Welch eine geschickte Strategie meines heißgeliebten Bruders. Jedes Jahr schenkte er mir die Sachen, die er selbst auch haben wollte. Ein paar Tage nach meinem Geburtstag sah man ihn dann immer irgendwo sitzen und sich mein Geschenk "ausleihen". Tjaha, von wegen. So kommt es, dass ich ihm bis heute auch nurnoch die Dinge schenke, die ich ebenfalls gerne im Haus hätte. Nach diesen miesen Erlebnissen beginne ich nun also mit dem größten Paket. Darin befindet sich ein neuer Stall für meinen Hamster Balu. Balu ist ein Zwerghamster, also ungewöhnlich klein und er ist bestimmt doppelt so breit wie hoch. Ja, es mag sein, dass ich ihm etwas zu viel zu Fressen gebe, aber er soll sein Leben doch genießen oder etwa nicht? Er hat schließlich nicht das Glück viele viele Jahre auf der Welt zu sein, sondern er beschränkt diese Zeit auf 2, wenn er großes Glück hat auf 3 Jahre. In den restlichen Geschenken befindet sich allerlei Schmuck, Kosmetik, ein edles Parfum, Bücher und Schokolade. Das Übliche. Letzten Endes greife ich zum Umschlag. "Florence", steht in fein säuberlicher Schreibschrift darauf. Und "Auf einen schönen Abend. Nur wir zwei Hübschen." Meine Mutter lächelt mich stolz an.  Gespannt drehe ich ihn um und schiebe die obere Hälfte aus der unteren heraus. Ich halte zwei schmale Karten in der Hand, rot und gelb.


Ein Telefonat


"Die Karten sind für den, Moment.... 14.11.", schreie ich ins Telefon.
"Tut mir leid, die Verbindung ist schlecht."
"Ich verstehe eh nich, warum du nicht mal mit eurem Telefon anrufst. Dein Handy spackt doch immer rum."
"Jaja, moment, ich gehe auf den Balkon, dann ist der Empfang wieder besser."
"Tu das."
Ich habe Ally angerufen, weil ich einen Rat brauche. Ally ist meine beste Freundin, wir beide sind schon zusammen in der Grundschule gewesen und kennen uns deshalb in und auswendig. Ich sage ihr meine Meinung auch wenn diese noch so hart ist und sie tut das selbe. Manchmal zicken wir uns gegenseitig an wie Schwestern. Aber manchmal ist sie die beste Freundin, die man auf dieser Welt nur haben kann.
"Warum gehst du nicht einfach hin?", fragt Ally.
Ich schweige einen Moment, so als hätte ich mir diese Frage noch nie 100 prozentig gestellt. Warum fällt es dir so schwer. Es ist einfach, ganz einfach!
"Nein, du weißt warum, das kann ich nicht, auf keinen Fall."
"Hmm, und was hast du jetzt vor, ich meine du kannst ja nicht einfach sagen du möchtest nicht. Da denken die auch ihr Kind wäre plötzlich schitzophren!"
"Genau deshalb ruf ich dich ja an, Ally. Du musst mir helfen. "







Ein Plan

So stehen wir da, meine Mutter und ich, beide herausgeputzt wie zwei Teenager, die sich aufmachen zu ihrem allerersten Date. Erst war ich in Bluse und Jeans die Treppe hinunter gekommen, aber meine Mutter wollte so nicht mit mir gehen. Sie bestand darauf, dass ich mein neues roséfarbenes Kleid anziehe. Es ist schön, ja das gebe ich zu, sonst hätte ich wohl kaum 30 wertvolle Euro dafür hingeblättert, aber für diesen Anlass erscheint es mir komisch. Meine Mutter neben mir sieht ähnlich aus: ein braunes Kleid mit einem Gürtel tailliert, es reicht ihr nicht ganz bis zu den Knien. Wie ich uns so im Spiegel anschaue, sehen wir uns ein bisschen ähnlich. Es gab Zeiten da haben meine Mutter und ich immer so ausgesehen. Wir haben viel zusammen gemacht, kurz bevor Großmutter starb, wurden beinahe Freundinnen. Da lag sie schon im Krankenhaus; Ich ging sie besuchen aber meine Mutter wurde zum kurzzeitigen Ersatz in einer Zeit, in der niemand mehr mit mir in den Zirkus ging oder mir das Seilspringen beibringen konnte. Ich half ihr bei modischen Fragen, sie brachte mir das Tanzen bei. Den Verlust meiner Oma zu überwinden half sie mir nie. Nicht ein einziges Mal schnitt sie dieses Thema auch nur an, nachdem wir auf ihrer Beerdigung waren. Nicht ein einziges Mal. Vielleicht ist sie selbst zu verletzt um darüber reden zu könnte. Danach trennten sich unsere Wege schlagartig. Mit der Beerdingung veränderte sich alles. Sie war plötzlich nurnoch meine Mutter, da war keine Freundschaft mehr. Und auch diese Mutter hing mir recht schnell zum Hals heraus.
Ich gucke ihr in die Augen und lächle sie zustimmend an. Ich will ihr sagen "Es ist aber kein vornehmer, pompöser Zirkus. Eigentlich brauchen wir diese Kleider nicht. Nein, ganz und garnicht.". Ich lasse es bleiben, denn ich möchte meiner Mutter noch eine Weile die Hoffnung erhalten, dass ich mit ihr dieses Zirkuszelt betrete. Sie lächelt zurück und sagt: "Das wird bestimmt ein ganz toller Abend mein Schatz. Weißt du, in letzter Zeit läuft es ja nicht so gut zwischen uns, aber ich denke, dass wir das wieder hinkriegen mein Liebling. Es ist halt eine schwere Zeit für dich und für mich. Sieh mal wir machen uns jetzt einen netten Abend zu zweit, genauso wie früher." Ein Schauer fährt über meinen Rücken. Ich habe mit einem Mal ein schlechtes Gewissen. Meine Mutter möchte versuchen unsere Beziehung wieder herzustellen, mit genau diesem Abend. Und ich versaue alles indem ich vor alten Erinnerungen flüchte. Sie streicht mir das Haar hinter ein Ohr. Ich versuche zu lächeln. Ob ich es schaffe weiß ich nicht.
Draußen ist es kalt, ich habe mir einen dicken Parka übergezogen und drücke meine Nase in das flauschige Innenfutter. Schweigend gehen wir nebeneinander her, wir haben uns eben nichts mehr zu sagen.
50 Meter vor dem Zirkuszelt erwartet uns zu meiner unglaublich gut gespielten Überraschung die gute Ally, welche uns mit einer verärgerten Miene entgegenkommt. "Oh ,hallo Ally. Gehst du etwa auch in die Vorstellung?", fragt meine Mutter freundlich. Allys blick verdüstert sich noch ein Stück mehr. Nun ist es kaum möglich NOCH verärgerter dreinzuschauen. Ally macht ihre Sache wirklich gut, dass muss ich ihr sagen. Doch die Show hat gerade erst begonnen. Mit einem Mal platzt alles aus ihr heraus. Sie hebt ihre Stimme, ein fast hysterischer Ton. Dann versucht sie in einem recht schwer zu verstehenden Gebrüll ihrer Wut Ausruck zu verleihen. "Guten Abend. Ja, genau das hatte ich ursprünglich vor, wissen Sie. Aber diese verdammten Schweine lassen mich nicht rein. Diese elenden..." Ihre Stimme bebt. Meine Mutter guckt sie erstaunt und fragend an und ich unterbreche sie: "Was ist denn los Ally? Warum zur Hölle sollte man dich nicht reinlassen?" Kurz guckt sie mich etwas erstaunt an, sie hatte nicht damit gerechnet, dass ich sie in ihrem einstudierten Text unterbrechen würde. Eine Millisekunde veränderte sich ihr Gesichstausdruck, ich konnte es genau sehen, doch nun ist  sie wieder ganz in ihrer Rolle. "Ich habe diese Karte hier rechtmäßig erstanden, okay? Ich hab mich auf einen schönen Abend gefreut und jetzt das! Da sagen die mir doch tatsächlich meine Karte wäre nicht gültig. Sie wäre nicht GÜLTIG! Was soll denn das heißen, hm?" Ich würde ihr alles abkaufen, wüsste ich nicht schon vorher wie ihr nächster Satz aussehen würde. Diese Annahme bestätigt sich als ich zu meiner Mutter rüberschaue. Ihr erschrockener Blick ist Bestätigung genug.  "Moment, mit wem bist du denn hier, Ally? Kann ich mit deiner Mutter sprechen?", fragt sie Ally. Oh nein, dies ist der Notfall den ich mir zuvor schon in Gedanken ausgemalt hatte. Ich wusste gleich, dass meiner Mutter es komisch vorkommen würde, wenn Ally so ganz alleine in den Zirkus geht. Für diesen Fall haben wir aber vorsichtshalber eine äußerst heikle Notrolle in unser Schauspiel mit eingebunden. Ally dreht sich um und schreit "Sam, komm mal her, SAM!". Hinter ihr erscheint ein Junge, oder auch ein junger Mann, wie man es denn gerne hätte, welcher sich neben sie stellt und ihre Hand ergreift. Das ist kein Fake. Sam ist Allys momentaner fester Freund. Ally hielt die Idee ihn einzubauen zwar für sehr fragwürdig aber ich sah keine andere Möglichkeit. "Achso, du bist also nicht mit deiner Mutter hier? Tja, dann sollte ich das vielleicht mit dem Mann an der Kasse regeln!", sagt meine Mutter. Ich sehe Ally so intensiv an wie nur irgendwie möglich um ihr klar zu machen, dass es dazu nicht kommen darf. "Nein nein. Es liegt nicht an den Leuten vom Zirkus." Jetzt wird sie wieder wütend. "Hierbei handelt es sich um ein Verbrechen! Hier hat doch tatsächlich jemand gefälschte Zirkuskarten für heute verkauft! So eine Frechheit! Achja, Sie erkennen ob Ihre gefälscht ist, wenn darauf ein kleiner Clown in der Ecke abgebildet ist. Das haben die echten Karten nämlich garnicht! Ja weiß ich das vorher oder was? Nein!!!" Sam, der daneben steht und wie ein Auto guckt, bemerkt: "Nein, das konnte sie wirklich nicht wissen." Das war sein Satz. Herzlichen Glückwunsch, er konnte ihn sich merken! Allys Freunde waren oftmals nicht die Hellsten. Aber die Schönsten. Darauf kann ich gerne später nochmal zurückkommen, jetzt aber weiter zur Geschichte. Meine Mutter kramt also aufgeregt in ihrer Handtasche herum und holt die beiden Eintrittskarten hervor. Darauf ragen in den Ecken zwei gedruckte Clowns. "Verdammt. Uns hat es auch erwischt! Liebling, es tut mir so leid." Sie guckt enttäuscht und wütend zugleich. "Och menno.", sage ich. Füge dann aber schnell ein "Aber ist nicht so schlimm, da können wir ja nun nichts für...", damit sie nicht auf die Idee kommt für den Eintritt ihres Kindes zu kämpfen, weil sich das ja sooo auf den Zirkus gefreut hat. Ally hat sich etwas beruhigt, sagt dann: "Naja, man kann echt nichts machen, die lassen einen mit gefälschten Karten nicht rein. Schade, aber was solls. Ich hoffe die schnappen dieses Arschloch von Betrüger!" und verabschiedet sich von uns. Hand in Hand sieht man die beiden an den blinkenden Lichtern vorbei in die Dunkelheit davongehen. Ich sage zu meiner Mutter: "Naja, das ist ja wirklich dumm gelaufen." "Es tut mir wirklich Leid, so Leid. Das sollte doch unser Abend werden!" Ich schweige betreten. "Aber du musst mir versprechen, dass wir die Tage mal zusammen Essen gehen ja? Vielleicht mal mit der ganzen Familie? Wir machen doch so selten was, bitte Mama!" Sie lächelt mich müde an. "Ja aber natürlich Schatz. Hast du vielleicht noch Lust jetzt etwas trinken zu gehen?" Ich sehe unbemerkt auf die Uhr und sage dann in einem leicht gequälten Ton: "Ich würde sehr gerne, das Problem ist nur, dass ich gerade bemerke wie furchtbar unbequem dieses Kleid doch ist. Es quetscht mir alles ab! Aua!" Da wird sie laut. "Florence! Wie oft habe ich dir gesagt du darfst dir nur Anziehsachen kaufen von denen du ganz sicher weißt, dass sie gut sitzen und du sie auch anziehen kannst!" Jetzt habe ich erst recht keine Lust mehr mit ihr wegzugehen. "Ja man, ist ja gut. Hab ich ja eh selbst bezahlt, also reg dich nicht auf! Jetzt lass uns nach Hause gehen." Pause."Bitte Mama!"
Schweigend gehen wir nebeneinander her, wir haben uns eben nichts mehr zu sagen.
Und während der Zirkusdirektor seine Ansprache hält schaut er in leere Plätze. Wir waren nicht die Einzigen, die nicht gekommen waren.



Ein Einkauf

"Florence? ... FLORENCE?"
Ich reiße die Tür auf, schreie aber noch in der Lautstärke wie ich sie gebraucht hätte wenn ich mit Musik und geschlossener Tür geantwortet hätte,
"WAAS?"
"Was machst du, Florence?"
"Ich bin am Laptop!?"
"Gut, dann darfst du Aufstrich fürs Abendbrot holen gehn." Ich hasse es wenn sie das so kühl sagt. So verdammt eiskalt. Da liegt keine Bitte in ihrem Ton.
Ich verdrehe die Augen und rufe zurück. "JA."
Es war kein "Ja mach ich gerne." sondern vielmehr ein "Ja, du mich auch!"
5 Minuten später stehe ich dick eingepackt in der Haustüre und verlasse die Wohnung ohne  tschüss zu sagen. Der kalte Wind weht mitten in mein Gesicht und da bereue ich es auch schon wieder ihr diesen Gefallen getan zu haben. Ich brauche schließlich keinen Aufstrich. Mir reicht unser Vorrat an Marmelade und Nutella vollkommen aus. Ich hole mein Handy heraus um etwas Musik zu hören und setze meinen Weg fort. Da klingelt es. Ich schalte das integrierte Headset in meinem Kopfhörer ein und antworte: "Ja, bitte?"  Es ist Ally.
"Hi Flory, wie geht´s?", sagt sie und ich höre schon an ihrer Stimme, dass ihr mal wieder etwas auf dem Herzen liegt. "Ich DARF wieder Einkaufen gehn. Was ist denn los, Süße?" Menschen laufen an mir vorbei und gucken mich seltsam an. Das mag daran liegen, dass ich kein Telefon in der Hand halte, so sieht es aus als würde ich Selbstgespräche führen. Sollen die doch denken. "Ach, das mit Sam, das ist doch alles scheiße. Dieses Arschloch guckt ständig anderen Frauen hinterher und wenn ich ihn frage, ob er Zeit hat, macht er meist schon was mit seinen Kumpels. Ich möchte wissen wieviele weibliche Kumpels dabei sind!" Fast habe ich den Tante Emma Laden erreicht. "Ally, ich hab dir schon von Anfang an gesagt, ich glaube Sam ist ein egoistisches Arschloch. Und er ist total unterbelichtet." "Das sagst du nicht nochmal über meinen Freund!" Es liegt doch tatsächlich echtes Entsetzen in ihrer Stimme. "Mensch Ally, dich kann man echt nicht verstehen. Gerade klang es noch so als wolltest du mit ihm Schluss machen und jetzt versuchtst du schon wieder ihn um jeden Preis zu verteidigen! Denk mal drüber nach, ob du ihn wirklich so sehr magst wie du es bei Facebook angibst. Ich muss jetzt auflegen, wir sehen uns ja morgen in der Schule." "Hmm", knurrt Ally. "Okay, also du würdest mit ihm Schluss machen, wirklich?" "Ja, Ally. Ich muss jetzt echt. Bis morgen!" "Alles klar, bis morgen, Flory."
Die Türe quietscht als ich den Laden betrete. Die Verkäuferin guckt mich mit einem freudigen Blick an und räumt dann weiter eins der Regale ein. Eigentlich mag ich sie. Sie ist immer freundlich, aber sie weiß wann sie besser nichts sagen sollte. Ich erwidere ihren Blick und seh mich dann um. Zunächst einmal nehme ich mir einen Schokoriegel. Ist ja nicht mein Geld. Dann erst stelle ich mich vor die niedlich kleine Frischetheke, in der allerlei Wurst und Käse seinen Platz hat. Die Verkäuferin bricht ihre Arbeit ab und stellt sich dafür hinter die Theke. Ich sehe mir die Nachrungsmittel genauer an. Ich habe absolut keine Ahnung was das alles ist, was ich hier sehe. Ich kann doch indem ich etwas sehe nicht wissen wie es schmeckt! Selbst wenn ich die kleinen Zettel lese, auf denen die Namen der verschiedenen Wurst und Käse-sorten stehen, fühle ich mich unwissend. Gouda. Das ist mir bekannt. "Brauchst du Hilfe, Liebes?" fragt die Frau mich. Sonst hat meine Mutter mir immer einen Zettel mitgegeben, was genau ich kaufen soll. Nun aber habe ich ja kein Wort mehr mit ihr gewechselt und bin direkt losgegangen. "Ja das wäre nett. Ich kenne mich überhaupt nicht aus mit den ganzen Sorten. Meine Mutter hat vergessen mir einen Zettel mitzugeben." Die Verkäuferin denkt kurz nach, dann fragt sie: "Was magst du denn am liebsten? Lieber etwas mildes oder isst du auch gerne würzig?" Ich muss kurz überlegen, sage dann aber "Ich glaube lieber etwas mildes, aber wenn es ein bisschen würzig ist, ist das auch nicht schlimm." "Na da lässt sich doch bestimmt etwas finden." Zusammen durchforsten wir dann zuerst die Wurst-, dann die Käsetheke. Sie erklärt mir zu jeder Sorte etwas. Den Geschmack, die Konsistenz. Ich komme mir vor wie in einer neu erschienenen EDEKA-Werbung. "Wir lieben Lebensmittel!" Diese Frau scheint ihre Lebensmittel wirklich zu lieben. Und es fasziniert mich, dass sie das alles weiß. Schließlich frage ich sie auch noch nach Dingen, die ich sowieso nicht vorhabe zu kaufen. Auch zu den Pasteten kann sie erzählen wie ich es noch nie bei einem Menschen erlebt habe. Allgemein natürlich schon. Ally redet zum Beispiel sehr viel. Aber bei dieser Frau geht es um Lebensmittel. Um einfache Lebensmittel! Und sie tut so, als stecken ganze Geschichten hinter ihnen. "Jetzt weiß ich wirklich garnicht mehr was ich nehmen soll, das ist ja geradezu eine Reizüberflutung hier." sage ich jetzt lachend. "Na, ich schlage vor wir nehmen jetzt einfach etwas was du gerne isst. Wenn deine Mutter vergisst dir einen Zettel mitzugeben, kannst du ja nichts dafür, nicht wahr?" Ich nicke nur, immer noch grinsend. "Geben sie mir einfach mal etwas wovon sie denken, ich könnte es gerne mögen!" Das erscheint mir die einfachste Lösung zu sein. Sie grinst wie ein kleines Kind und beginnt von einigen Stücken etwas abzuschneiden. Schließlich stehen wir am Zahlthresen und ich entscheide mich dazu noch einen weiteren Schokoriegel auf die Fläche zu legen. In dem Moment höre ich ein Quietschen hinter mir. Jemand betritt den Laden. Ich drehe mich ganz kurz um, höflichkeitshalber, und sehe einen Jungen...


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